Funktion folgt Branche: ERP-Software für Lohnbeschichter der Bauindustrie

Beschließt ein Oberflächendienstleister in der Bauindustrie, seine ERP-Software zu wechseln, steht er erst einmal vor einem kaum zu überblickenden Angebot an möglichen Alternativen. Auf welche Kriterien sollte hierbei insbesondere geachtet werden?
Erschienen in mo Magazin für Oberflächentechnik 12/2014

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Enterprise Resource Planning Software, kurz: ERP-Software, ist das zentrale Organisationsmittel eines Unternehmens. Ein Systemwechsel ist daher eine wichtige unternehmerische Entscheidung mit langfristigen Auswirkungen auf den Geschäftserfolg. Das Angebot an ERP-Software ist groß, jedoch eignen sich nicht alle Lösungen auch für alle Branchen.

Für einen erfolgreichen Systemwechsel ist es entscheidend, frühzeitig und umfassend zu klären, ob sich eine Lösung wirklich für die Branche eignet und welche Funktionsabdeckung im Standard erreicht werden kann. Als Zielwert gilt hier eine Funktionsabdeckung von 80 bis 90 Prozent. Ein niedrigerer Wert erhöht den Bedarf an Individualprogrammierung. Diese ist nicht nur teuer, in der Regel werden individuell programmierte Erweiterungen zudem nicht mit derselben Intensität weiterentwickelt, wie dies bei Standardfunktionen einer Software der Fall ist. Für die Abschätzung der Gesamtkosten eines Projekts auch über die Einführung hinaus – Total Cost of Ownership – gilt deshalb: Je mehr individuelle Programmierung für eine Lösung erforderlich ist, desto höher sind nicht nur die Ersterwerbskosten, sondern auch die laufenden Kosten zum Beispiel bei Releasewechseln.

Funktionsabdeckung prüfen

Branchenlösungen erreichen in der Regel eine höhere Grund-Funktionsabdeckung als branchenübergreifende Software. Schließlich sollen sie, so die Definition, bereits im Standard Funktionalitäten und Module mitbringen, die auf die Anforderungen eines bestimmten Marktsegments zugeschnitten sind. Dabei wird der Branchenbegriff jedoch oftmals weit gefasst: ERP-Software für die Metallindustrie beispielsweise ist ein Oberbegriff, der als Branchenlösung vermarktet wird, aber eine enorme Vielfalt unterschiedlicher Unternehmen umfasst. Selbst innerhalb der Oberflächentechnik ist das Anforderungsspektrum breit: Die Betriebsabläufe eines Pulverbeschichters oder Eloxalwerks in der Bauindustrie stellen andere Anforderungen an eine Software als jene einer Verzinkerei von Schüttgut. Drei für Lohnbeschichter in der Bauindustrie wichtige Funktionen sind die Bereiche Preisfindung, Pulververwaltung und Prozesssicherheit. In diesen drei Punkten kann jedoch nicht von Vornherein davon ausgegangen werden, dass sie im Standardumfang einer Software adäquat enthalten sind.

Zum Alltagsgeschäft von Pulverbeschichtern und Eloxalwerken, die für den Fenster- und Fassadenbau, für Hersteller von Profil- oder Sonnenschutzsystemen als Lohndienstleister arbeiten, gehört die schnelle und zugleich ökonomische Ausführung von Sonderwünschen. Ungewöhnliche Abmessungen, eine spezielle Optik, hohe Vorgaben an Qualität und Beanspruchung sowie Zusatzarbeiten bedürfen nicht nur besonderer Flexibilität und Sorgfalt in der Fertigungsplanung. Für ein erfolgreiches Wirtschaften müssen diese Punkte auch adäquat in der Preisfindung berücksichtigt werden.

Die branchentypischen Anforderungen an das Kalkulationsmodul einer ERP-Software sind bei Lohnbeschichtern im Bau deshalb besonders ausgeprägt: Können Zuschläge beispielsweise für Fixlängen, Folieren, Abstöpseln, Sägen und Verschrauben abgebildet werden? Lassen sich für Kunden, Objekte oder einzelne Artikel Sonderkonditionen hinterlegen? Berechnet das Programm einen automatischen Aufschlag, wenn ein 4m-Profil auf einer Anlage mit einer Kapazität von 6 Metern beschichtet wird? Können Farbgruppen für Kunden unterschiedlich definiert werden? Verfügt die Software über einen Flächenrechner, mit dem Fläche und Volumen von Kantteilen und Rahmen ebenso berechnet werden kann wie die Parameter von Rohren?

Eine branchengeeignete Software bietet im Rahmen ihrer Kalkulation und Preisfindung entsprechende Möglichkeiten. Darüber hinaus sollten Preisstaffeln wahlweise an die Gesamtfläche der Bestellung, des Auftrags oder der Auftragsposition geknüpft werden. In der Flächenberechnung sollte zudem eine Unterscheidung zwischen der effektiven und der abzurechnenden Fläche und zwischen technischer Fläche (Gesamtfläche) und mechanischer Fläche (beispielsweise beim Schleifen nur von Sichtflächen) möglich sein.

Für Lohnbeschichter essentiell: Wirtschaftlichkeit trotz Zeitnot

Für pulverbeschichtende Unternehmen ist eine gut funktionierende Pulververwaltung unverzichtbar. Neben unterschiedlichen Farbsystemen – RAL, Pantone, NCS – müssen in der Stammdatenverwaltung eines ERP-Systems auch Informationen zu Herstellern, Glanzgraden, Strukturen, Einbrenntemperaturen oder die Unterscheidung zwischen neuem und rückgewonnenem Pulver hinterlegt werden. Pulverbeschichter und Lackierer kennen den fast alltäglichen Zielkonflikt, Kunden schnell beliefern zu müssen und gleichzeitig ihre Vorratshaltung an Pulvern und Lacken im Hinblick auf Kapitalbindung, Lagerplatz und Haltbarkeit wirtschaftlich zu gestalten. Eine in einer ERP-Software integrierte Reichweitenprognose kann hier Abhilfe schaffen. Sie kalkuliert, wie lange der Pulverbestand des Unternehmens in Abhängigkeit von eingelasteten und angekündigten Aufträgen reicht und wann nachbestellt werden muss, um eine Verschiebung von Aufträgen zu vermeiden. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass die Software bei der Reichweitenprognose Lagerzu- und -abgänge ebenso berücksichtigt wie die Einplanung neuer Aufträge sowie deren unterschiedliche Priorisierung. 

Bei Beschichtungsverfahren müssen die unterschiedlichen Prozessschritte wie die mechanische oder nasschemische Vorbehandlung, das Beschichten selbst sowie das anschließende Einbrennen in der dafür eingesetzten ERP-Software realitätsnah abgebildet werden können. Für einen störungsfreien Fertigungsablauf ist es sinnvoll, den einzelnen Verfahrensschritten eigene Rezepturen zuzuordnen, mit denen benötigte Warenträger, Pulver, Hilfs- und Betriebsstoffe oder Packmittel berechnet und auf Verfügbarkeit hin geprüft werden. Auch Fertigungsanweisungen oder Qualitätsanforderungen für die einzelnen Produktionsstellen sollten über die Verfahren abrufbar sein. Die Engpassplanung ist ein weiterer wichtiger Anwendungsfall. Hier können alternative Bearbeitungspläne aufzeigen,welche Möglichkeiten der Umplanung sich unter Miteinbeziehung geeigneter Anlagen bieten.

Kennzeichnung, Rückverfolgbarkeit und Dokumentation: Ziel muss sein, die von der Bauindustrie geforderten Standards an Prozesssicherheit transparent zu erfüllen. Ein hohes Maß an Prozesssicherheit ist bei der Vielzahl an Bearbeitungsstufen und Vorschriften nur dann gegeben, wenn alle Fertigungs- und QS-Prozesse, -Informationen und -Dokumentationen in einem integrierten System abgebildet sind.

Referenzbesuche helfen bei der Entscheidungsfindung

Nicht zuletzt sollten Beschichter auch die Partnerfähigkeit der zur Auswahl stehenden Softwaredienstleister unter die Lupe nehmen. Hier lohnen sich Referenzbesuche bei vergleichbaren Unternehmen, die eine bestimmte Software bereits im Einsatz haben. So entsteht nicht nur ein erster Eindruck hinsichtlich der funktionalen Eignung einer Lösung, sondern auch zu auf dem Papier schwer belegbaren Themen wie Service- und Supportbereitschaft oder auch qualifizierte Betreuung in der Produkteinführung.