Von Industrie 4.0 zu Galvanik 4.1 (Teil V)

Elektrolytführung neu gedacht

Von Stefan Kölle, Christian Mock, Klaus Schmid und Claudia Beatriz dos Santos, IFF Universität Stuttgart, Fraunhofer-Institut IPA, Stuttgart

Im Rahmen eines ZIM-geförderten Kooperationsprojekts untersuchte und entwickelte das Institut für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb IFF der Universität Stuttgart neue Ansätze der Elektrolytführung, die durch ein digitales Abbild des Produktionsprozesseses ermöglicht werden. Mit Hilfe realer Produktionsdaten in Verbindung mit dem Simulationsmodell der TU Braunschweig, lässt sich der Chemikalienverbrauch und damit die tatsächliche Konzentration einzelner Elektrolytbestandteile digital abbilden. Dadurch entstehen die Möglichkeiten einer besseren Zustandskontrolle und einer verbesserten Prozessführung.

Galvanische Elektrolyte – ein komplexes System

Die Elektrolytführung galvanischer Prozesse ist für das anwendende Beschichtungs­unternehmen eine stete Herausforderung. Die Elektrolyte sind komplexe Lösungen, die aus einer Vielzahl von Bestandteilen zusammengesetzt sind. Besonders zu erwähnen sind hierbei Legierungsabscheidungsverfahren oder dekorative Verfahren wie Mattnickelelektrolyte. Die Bestandteile sind zum einen anorganische Komponenten wie die abzuscheidenden Schichtmetalle, die in Form von Salzen gelöst werden, und zum anderen organische Komponenten wie Komplexbildner, Netzmittel, Puffer sowie Glanzbildner. Für die Qualität der abzuscheidenden Schichten ist dabei die Einhaltung der vom Verfahrenslieferanten vorgegebenen Toleranzbereiche äußerst wichtig und notwendig.

Eine große Herausforderung stellt die Tatsache dar, dass dem Beschichter nur teilweise bekannt ist, welche einzelnen Bestandteile im Elektrolyt enthalten sind. Bei einem Elektrolyten zur Abscheidung von Zink-Nickel-Schichten gehören häufig die Metall­salze wie beispielsweise Nickel und Zink sowie Leitsalze wie Chlorid zu den Haupt­bestandteilen. Der Beschichter kann deren Konzentration mit seinen eigenen chemischen Analyseverfahren regelmäßig, meist täglich, bestimmen und bei Bedarf jederzeit nachdosieren.

Spezielle Zusatzchemikalien, die in großem Maße die Legierungszusammensetzung, den Glanz oder andere wichtige Schichteigen­schaften steuern, werden vom Verfahrenslieferanten als fertige Mischungen bereitgestellt und aufgrund der für den Beschichter unbekannten Rezeptur auch von diesem analysiert. Eine analytische Kontrolle dieser Substanzen erfolgt häufig monatlich durch den Verfahrenslieferanten anhand der vom Unternehmen zugesandten Elektrolytproben aus der Produktion. Auf Basis dieser Analysen­ergebnisse erhält der Beschichter als Rückmeldung Konzentrationswerte der jeweiligen Zusatzchemikalien und Anweisungen, ob nachdosiert und in den Prozess eingegriffen werden muss. In der Zwischenzeit hat der Beschichter lediglich die Möglichkeit, den Zustand des Elektrolyten indirekt zu bewerten, indem beispielsweise Schichtproben mit Schichtmustern verglichen werden. Im Falle einer schlechten Probe liegen jedoch keine aktuellen Absolutwerte zu den Konzentrationen vor, die eine mengenmäßig exakte Nachdosierung zu einer möglichen Sollwertdifferenz ermöglichen. Um die Konzentrationen der Zusatzchemikalien zwischen den jeweiligen Analysen beim Verfahrenslieferanten aufrechtzuerhalten, werden diese kontinuierlich, meist über eine Amperestunden-Steuerung, zudosiert.

Optimierte Ansätze zur Elektrolytführung

Die Bestandteile des Elektrolyten werden während des Beschichtungsprozesses kontinuierlich verbraucht. Der Verbrauch setzt sich in Abhängigkeit der jeweiligen Substanz aus verschiedenen Teilverbrauchsmengen zusammen. Zum einen aus dem elektrochemischen Abbau, der sich durch die Degradierung beziehungsweise der chemischen Umsetzung des Stoffes und der Abscheidung, also dem Einbau des Stoffes in die Schicht, zusammensetzt. Zusätzlich erhöht sich dieser Verbrauch durch die Verschleppung von Elektrolytresten, die nach der Beschichtung auf den Bauteilen verbleiben, in den nächsten Prozessschritt. Bei den täglich analysierten Bestandteilen, wie zum Beispiel Zink, Nickel oder Chlorid, ist es ein Leichtes, die Differenz zum Sollwert auf Basis der Analyseergebnisse nachzudosieren. Im Gegensatz dazu lassen sich aufgrund der großen Zeitabstände zwischen den vom Verfahrenslieferanten durchgeführten Analysen die Zusatzchemikalien nicht auf diese Weise nachdosieren.

Wie im letzten Abschnitt bereits angeführt, werden die Zusätze üblicherweise nach Amperestunden, das heißt in Abhängigkeit der beschichteten Fläche bei vorgegebener Stromdichte, nachdosiert. Die Zugabemengen pro Amperestunde richten sich nach den Vorgaben des Verfahrenslieferanten und setzen sich ebenfalls aus den oben genannten Einflussgrößen, Einbau, Abbau und Verschleppung zusammen.

Die Verschleppung hat vor allem bei Trommelbeschichtungsprozessen einen signifi­kanten Einfluss auf den Chemikalienverbrauch. Zudem spielt die Geometrie der zu beschichtenden Teile eine große Rolle, da beispielsweise Hutmuttern wesentlich mehr Elektrolyt verschleppen als Bolzen. Bei der Steuerung der Zugabemengen nach Ampere­stunden wird für den Verschleppungsanteil ein Durchschnittwert angenommen, der auf die zu beschichtende Gesamtfläche umgerechnet wird. Damit wird bei dieser Art der Prozessführung die Bauteilgeometrie nur indirekt berücksichtigt.

Im Rahmen des ZIM geförderten Projekts hat das IWF der TU Braunschweig eine Simulation basierend auf einer Energie- und Stoffstrommodellierung entwickelt. Dieses Modell führt zu der Möglichkeit, alle prozessrelevanten Stoff- und Energieströme eines galvanischen Prozesses buchhalterisch zu erfassen [1]. Aufbauend und integriert in diese Rahmenstruktur haben das IWF und das IFF der Universität Stuttgart einen neuartigen Ansatz zur Prozessführung galvanischer Elektrolyte entwickelt. Kern der Entwicklung ist die vollständig stoffliche Bilanzierung des Elektrolyten durch Berücksichtigung aller Zugaben (Nachdosierung und Anodenauflösung) und Verbrauchskennwerte (elektrochemischer Abbau, Schichteinbau und Verschleppung), woraus durch Integration in die Simulation ein digitaler Zwilling des Elektrolyten erstellt werden konnte.

Bei dem im Projekt betrachteten Trommelprozess hatte besonders die Verschleppung einen großen Einfluss auf die Stoffbilanz. Um diesen zu ermitteln wurden die Verschleppungsmengen verschiedener Bauteile vom Projektpartner B+T ermittelt. Auf Basis dieser Werte zeigt eine Berechnung des IWF und des IFF, dass sich bei ausschließlicher Betriebsart des Elektrolyten in Form einzelner Bauteile teilweise starke Abweichungen der Elektrolytzusammensetzung ergeben, wenn ausschließlich nach der Amperestunden-Steuerung nachdosiert wird (Abb. 1).

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Abb. 1: Berechnete Konzentration eines organischen Zusatzes nach einem Monat bei Amperestunden-Steuerung in Abhängigkeit des Bauteils (Typ A – E) im Vergleich zu einem Sollstartwert
 

Damit nicht die Verschleppung jedes einzelnen Bauteils empirisch bestimmt werden muss, wurden drei Kategorien gebildet, in die alle Bauteile des Projektpartners B+T eingeteilt wurden, die in der Trommel beschichtet werden sollten. Die Einteilung erfolgte dabei allein auf Basis von Erfahrungswissen und ist für den Beschichter ohne Hilfsmittel möglich. Der elektrochemische Abbau der Zusatzchemikalien wurde vom Verfahrenslieferanten angegeben. Der Schichteinbau lässt sich rechnerisch bestimmen.

Die festgelegten Verschleppungskategorien wurden anschließend in das Berechnungsmodell des Elektrolyten integriert. Gespeist mit realen Beschichtungsaufträgen von B+T entsteht ein digitales Abbild des Elektrolyten, das im Idealfall mit geringer Abweichung dem tatsächlichen, aktuellen Zustand des realen Elektrolyten entspricht. In Abhängigkeit der beschichteten Fläche, als Funktion von elektrochemischem Abbau, Schichteinbau und der Verschleppung, kann die theoretische Konzentration eines Elektrolytbestandteils berechnet und zur Nachdosierung oder Zustandsüberwachung des Elektrolyten genutzt werden. Damit ist es möglich, beispielsweise den Konzentrationswert einer Zusatzchemikalie digital zwischen den analytischen Messintervallen mitzuführen.

Zur Validierung des Modells wurde über einen Zeitraum von einem Monat die Konzentration einer Substanz simuliert. Dabei wurden alle Fertigungsaufträge und Zugaben berücksichtigt, die im realen Prozess während des Zeitraums auftraten. Parallel wurde die Konzentration der betrachteten Substanz täglich analytisch bestimmt. In diesem Zeitraum betrug die Streuung zwischen Messwert und berechneter Konzentration 2,7 % bei einer maximalen Differenz von 5,8 %. Dies stellt eine sehr gute Übereinstimmung dar, die die erwarteten Ergebnisse deutlich übertroffen hat. Dadurch ergeben sich eine Vielzahl an Nutzungsmöglichkeiten des Berechnungsmodells.

Ausblick und Potentiale

Wird dieses Modell in die Anlagensteuerung implementiert, so besteht zunächst die Möglichkeit, den Zustand des Elektrolyten und insbesondere die Konzentrationen der Zusätze zwischen den Analysen verfolgen und analysieren zu können. Dies ermöglicht eine bessere Nachverfolgbarkeit darüber, was mit dem Elektrolyten zwischen den einzelnen Analysen der Zusätze passiert. Für die Zukunft ist denkbar, die Wartung eines Elek­trolyten auf Basis dieses Ansatzes zu verfolgen und vorrausschauend zu gestalten.

Insgesamt ergeben sich mit diesem innovativen Ansatz gänzlich neue Möglichkeiten der Prozessführung. Zum einen kann der Prozess in engeren Eingriffsgrenzen geführt werden, zum anderen besteht die Möglichkeit, den Prozess näher an der unteren Eingriffsgrenze zu steuern, da der Zustand des Elektrolyten durch das Modell besser bekannt ist. Damit können sowohl Kosten für die Elektrolytbestandteile eingespart werden, als auch Chemikalien für die Abwasserbehandlung. Somit lässt der entwickelte Ansatz nicht nur eine wirtschaftlichere Betriebsweise galvanischer Prozesse zu, sondern leistet zusätzlich einen ökologischen Beitrag.

Quelle

[1] Alexander Leiden, Sebastian Thiede und Christoph Herrmann: Von Industrie 4.0 zu Galvanik 4.1 – Cyber-physische Produktionssysteme für die Galvanoprozesskette; WOMag 12/2018, www.womag-­online.de

Veröffentlicht in WoMag 04/19